Drehbuch schreiben für Einsteiger

Eine gute Figur machen: Wie soll ich das zeigen? - Die dreidimensionale Figur im Film

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Wie soll ich das zeigen? - Die dreidimensionale Figur im Film

Film ist ein visuelles Medium. Im Gegensatz zur Literatur fehlt die Möglichkeit, Figuren bzw. die Charaktereigenschaften der Figuren durch deren inneren Monolog oder eine mehr oder minder auktoriale Schilderung des Autors zu beschreiben.

Im Film läuft die Informationsvermittlung über die Herkunft einer Figur, ihren inneren Zustand, ihre (hervorstechenden) Charaktereigenschaften und ihren Lebenszusammenhang beinahe ausschließlich über ihr Verhalten.

Hier schließt sich der Kreis zum Supermarktspiel zu Beginn. Hier werden fast alle Beschreibungsebenen bedient: Die Kleider, die die Figur trägt, die Menge an Einkaufsgut, die Art der ausgewählten Lebensmittel etc. geben Aufschluss über ihre Herkunft und Lebensumstände (soziale Beschreibungsebene). Die Art, wie sie durch den Supermarkt geht und wie sie einkauft, sagt viel über ihren psychischen Zustand aus (psychische Beschreibungsebene). Und die Tatsache, dass Sie die Figur als männlich oder weiblich, groß oder klein, dick oder dünn beschrieben haben, deckt die physiologische Beschreibungsebene ab.

Möglicherweise gibt es auch schon Hinweise über die Haltung: Hat die Figur alle Milchtüten im Kühlregal auf ihr Haltbarkeitsdatum überprüft? Dann ist sie sicher niemand, der allzu vertrauensselig durch die Welt geht. Packt sie, ohne groß zu kontrollieren, ein, was sie braucht, hat sie ein gewisses Grundvertrauen etc.:

Das Supermarktspiel ist auch sehr hilfreich, wenn Sie später Ihren eigenen Figuren auf die Schliche kommen wollen. Lassen Sie sie einfach mal durch den Supermarkt gehen und schauen Sie, was passiert.

Aufgabe: Filmdiskussion - Eingangssequenzen

Sehen Sie sich die Eingangssequenzen von "Ganz oder gar nicht" und "Das Schweigen der Lämmer" an.

Achten Sie darauf, wie die Autoren die Figuren allein durch ihr Auftreten und ihr Verhalten etablieren: Welche Beschreibungsebenen nutzen die Autoren? Welche Haltung haben die Figuren? Was für Charaktereigenschaften?

Notieren Sie für die beiden Filmanfänge auch, wie die Figuren zueinander stehen. Gibt es eine Hierarchie zwischen ihnen?

Achtung: Unter Eingangssequenz versteht man den Filmanfang bis zum Ende der Filmtitel. Das sind meist nur ein bis drei Minuten.

Was nun?

Nehmen wir mal an, Sie haben bereits eine großartige, dreidimensionale Figur erfunden. Aber die allein macht noch keinen Film. Sie wissen nur, dass diese Figur Sie so sehr interessiert, dass Sie sie zur zentralen Figur in Ihrem Film machen wollen. Sie wollen die Geschichte dieser Figur erzählen - und dass der Zuschauer mit ihr durch den Film geht.

Diese zentrale Figur nennt man Protagonist bzw. Protagonistin. Er oder sie ist die Figur, mit der der Zuschauer hofft und bangt.

Aber das macht immer noch keinen Film. Denn so ein Protagonist muss sich erstmal in Bewegung setzen, damit eine filmische Handlung entsteht.

Zitat Anfang

Someone wants something badly and has trouble having it

Zitat Ende

Also so in etwa: "Jemand will etwas unbedingt und hat bzw. kommt in extreme Schwierigkeiten, um es zu bekommen."

So beschreiben David Howard und Edward Mabley in ihrem Buch "The Tools Of Screenwriting" das Ziel des Protagonisten.

Das Ziel ist immer etwas sehr Konkretes: Die Million. Diesen Mann. Diese Frau. Überleben. Den Mörder fangen, verheiratet bleiben etc. Aber wie kommt der Protagonist an sein Ziel? Im Falle des Krimis oder Thrillers ist das ganz einfach. Bei einem Protagonisten, der Ermittler ist, ist das Ziel "Schnapp der Täter" schon beruflich vorgegeben.

Protagonisten, die eher versehentlich in eine kriminelle Handlung hineingezogen werden, bekommen das Ziel vom Antagonisten quasi diktiert. Der will sie nämlich ausschalten. Das Ziel heißt hier "Überleben".

In allen anderen Fällen merkt der Zuschauer zu Beginn des Films, in der sogenannten Exposition, dass der Protagonist zwar einen eingespielten Alltag lebt, dieser aber fragil ist. Entweder gibt es eine gewisse Unzufriedenheit, die der Protagonist zunächst zu verdrängen sucht. Dann wird es ein oder mehrere Vorkommnisse geben, der sogenannten Anstoß bzw. die Anstöße, die ihn dazu bringen, sein Leben zu ändern.

Oder, zweite Möglichkeit, es kommt plötzlich eine Aufgabe auf ihn zu, die er unbedingt lösen muss, um sein Gleichgewicht (wieder-) zu finden. Im nächsten Kapitel, das die Drei-Akt-Struktur des Films behandelt, werden wir uns das noch mal ganz genau angucken.

Außer dem Ziel gibt es eine Art Unterströmung im Charakter des Protagonisten. Diese Unterströmung wird Bedürfnis genannt.

Im Gegensatz zum Ziel ist diese Unterströmung von Anfang an vorhanden. Das Bedürfnis ist etwas, was dem Protagonisten in seinem tiefsten Inneren fehlt. Es ist nicht konkret wie das Ziel, sondern universell: Beispiele hierfür sind das Bedürfnis nach Anerkennung. Oder nach Liebe. Oder nach dem Erwachsenwerden.

Oft steht das Bedürfnis dem Ziel entgegen. Wenn der Protagonist das Ziel erreicht hat, merkt er, dass das Ziel ihn gar nicht glücklich macht, sondern dass er es aufgeben muss, um glücklich zu werden.

Beispiel:

Ein klassisches Beispiel hierfür ist "Während Du schliefst": Lucy (Sandra Bullock) ist unsterblich in den Schönling Peter verliebt. Sie tut alles, um ihn zu bekommen. Selbst als sie seinen Bruder, den netten Jack, kennenlernt, der ihr Bedürfnis nach wahrer Liebe befriedigen könnte, bleibt sie dabei: Sie will Peter. Und sie kriegt ihn. Doch vor dem Traualtar stellt sie fest, dass er nicht der Richtige ist.

Überhaupt spielen Romantic Comedies ganz oft mit dem Gegensatz von Ziel und Bedürfnis, indem sie ihn personifizieren. Wer erinnert sich nicht daran, dass Hugh Grant in "Vier Hochzeiten und ein Todesfall" schon mit Duckface (Ziel) vor dem Traualtar stand, als er endlich zur Vernunft kam und sich für sein Bedürfnis nach Liebe ohne bürgerliches Klammern (Andy McDowell als Carrie) entschied.

Es muss aber nicht immer einen Widerspruch zwischen Ziel und Bedürfnis geben. Der angesprochene Widerspruch ist nur eins der Stilmittel, um den "Kampf" des Protagonisten noch dramatischer zu gestalten.

Das Wichtigste am Bedürfnis des Protagonisten ist, dass es für die meisten Menschen dieser Erde erkennbar und nachvollziehbar ist. Damit wird der Film universell verständlich und menschlich. Egal ob wir im Dschungel, in der Großstadt, in der Wüste oder auf dem platten Land wohnen.

Die Wandlung

Wenn der Protagonist sein Ziel erreicht hat, hat er auch eine Wandlung vollzogen. Er hat seine Ängste überwunden. Oder er kann plötzlich vertrauen. Oder sein Bedürfnis leben. Oder, oder, oder.

Der Zuschauer merkt das daran, dass der Protagonist zum Schluss des Films anders mit einer Situation umgeht, als er das am Anfang des Films getan hat. Er ist sozusagen an seinen Aufgaben gewachsen.

Aufgabe: Filmdiskussion - Ziel und Bedürfnis

Sehen Sie sich "Das Schweigen der Lämmer", "Auf der Flucht" und "Ganz oder gar nicht" an. Beantworten Sie folgende Fragen:

  • Welches Ziel hat Clarice Starling? Welches Dr. Kimble? Und welches Ziel hat Gus?

  • Hat jede der genannten Figuren ein Bedürfnis? Wie könnte man ihr jeweiliges Bedürfnis nennen?

  • Steht ihr Bedürfnis dem Ziel entgegen oder arbeitet es dem Ziel zu?