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Egal, ob man einen Roman oder Krimi liest, einen Film sieht oder einem Hörspiel lauscht, es sind die darin agierenden Figuren, die den Rezipienten fesseln.
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Figuren
Wir gehen mit ihnen durch den Stoff, wollen wissen, wie es mit ihnen weitergeht. Wie die Geschichte für sie ausgeht. Mit ihnen leiden wir mit, wenn sie in einem Drama oder gar einer Tragödie ihr Schicksal herausfordern, mit ihm hadern bzw. im Fall der Tragödie daran scheitern. In der Komödie lachen wir mit ihnen und über sie und wir fiebern mit ihnen, wenn sie in einem Krimi oder Thriller, gleich ob im Buch oder auf der Leinwand, um ihr Leben kämpfen oder einen Mörder suchen.
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Diese enge Bindung zwischen Rezipienten und fiktionaler Figur gelingt nur, wenn die Figur überzeugt. Wenn sie fesselt. Fasziniert. Oder man sich an ihr reiben kann. Wenn sie keine Schablone, sondern dreidimensional und abgerundet ist.
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Als Beispiel vorab drei Figuren, die mir in der letzten Zeit besonders gefallen haben:
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Da ist zum einen Stieg Larssons schroffe, genialische Heldin Lisbeth Salander, die trotz ihrer Stärke auch Opfer ist.
Zum zweiten Karen Duves Alex Herwig, die Protagonistin ihres Romans "Taxi", eine völlig entscheidungsunfähige, eigentlich ängstliche Figur, die sagt: "Ich wusste, dass ich alles aushalten konnte. Das war meine Stärke. Mir war noch nie irgendetwas Entscheidendes in meinem Leben gelungen, aber aushalten konnte ich alles." Und aushalten muss sie. Und dabei entwickelt sie eine erstaunliche "Toughheit".
Als Drittes der von Robert Atzorn gespielte Jon Ewermann im ZDF-Film "Im Gehege", ein arroganter, gefühlskalter Kerl, der sich in einem Liebeswahn wiederfindet und dabei über Leichen geht.
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Alle drei Figuren verfügen über ein Bündel von Charaktereigenschaften und Macken. Man reibt sich an ihnen, gleichzeitig mag man sie. Bis auf Jon Ewermann. Dem folgt man mit der Faszination des Grauen in den Abstieg. Aber es gibt natürlich auch Figuren, die man liebt. John Irving zum Beispiel hat viele unglaublich liebenswerte Figuren geschaffen.
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Wie man solche und andere Figuren erfindet und schreibt, steht im Zentrum dieses Artikels. Fangen wir mit ein paar sehr wichtigen theoretische Grundlagen an, um dann ganz praktische Übungen kennenzulernen.
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Technik
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Drei Dimensionen machen eine gute Figur
Wenn heute von dreidimensionalen Figuren die Rede ist, sind abgerundete, lebendige Figuren gemeint. Ursprünglich stammt der Begriff der dreidimensionalen Figur jedoch aus Lajos Egris Standardwerk "The Art of Dramatic Writing". Für Egri setzt sich die Figur tatsächlich aus drei Dimensionen zusammen. Diese drei Dimensionen bilden die Grundlage gelungener Figuren. Zunächst gibt es die physiologische Dimension. In ihr werden körperliche Details wie Geschlecht, Größe, Haare, Rasse etc. beschrieben.
Die zweite, die soziologischen Dimension, trifft darüber Aussagen, ob die Figur arm oder reich ist, ob sie über einen hohen, einen durchschnittlichen oder einen niedrigen Bildungsgrad verfügt, welcher Schicht sie angehört, ob sie Single oder Mitglied einer Großfamilie ist etc.
Die dritte Dimension ist die psychologische Beschreibungsebene. Sie beschreibt nicht nur die Grundstimmung einer Figur, nämlich ob sie traurig, fröhlich, wütend oder gleichgültig ihr Leben bewältigt, sondern auch ihre Neurosen, Ängste oder Psychosen und sonstige psychologische Eigenheiten. Die psychologische Dimension ist zu Teilen ein Ergebnis des Zusammenspiels der physiologischen und der soziologischen Dimension.
Als Beispiel erfinde ich hier einmal schnell eine Figur. Ich nenne sie Herrn Rettich. Also: Herr Rettich ist ein kleiner, fast zierlich gebauter Mann um die fünfzig mit sandfarbenem, ordentlich gescheiteltem Kurzhaar. Er trägt eine Brille mit dünnem, goldenem Rand. Seine Augen sind dahinter nicht zu erkennen. Er trägt ausschließlich Anzüge. Diese Anzüge sind schon etwas abgeschabt, aber wenn man genau hinschaut, sieht man, dass sie einmal von hervorragender Qualität gewesen sein müssen. Herr Rettich ist so zurückhaltend, dass er verhuscht wirkt. Wenn man ihn im Treppenhaus trifft, tritt er auffällig weit zur Seite. Er ist sehr höflich, aber seine Höflichkeit ähnelt einem Panzer. Er spricht leise und drückt sich gewählt aus. Herr Rettich ist Kettenraucher.
Mit dieser Beschreibung habe ich Egris drei Dimensionen erstmal abgedeckt. Man kann und wird die Beschreibung noch viel ausführlicher machen, wenn man die Figur in einem Roman, einem Film oder einem Hörspiel verwenden möchte, aber an dieser Stelle soll uns das reichen.
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Zwei zusätzliche Dimensionen machen eine noch bessere Figur
Viele Ratgeber beschränken sich auf Egris oben genannte drei Dimensionen. Doch bei John Vorhaus, Autor des Buches "Handwerk Humor", ein Buch, das sich an Drehbuchautoren wendet, gibt es noch zwei zusätzliche Dimensionen zu entdecken, die äußerst wichtig für eine gelungene Figur sind. Selbst wenn sie nicht in einer Komödie mitspielen soll.
Beobachtet man seine Mitmenschen, seine Freunde, Bekannten und Kollegen, fällt auf, dass jeder von ihnen sein Leben (unbewusst) unter einer Art Prämisse betrachtet. Das kann "Hauptsache billig" sein. Oder "Alle sind gegen mich". Oder "War klar, dass mir das passiert". Oder auch "Alles wird gut" usw.
John Vorhaus nennt das die "Haltung". Seine erste wichtige Ergänzung zur physiologischen, soziologischen und psychologischen Dimension ist eben diese Haltung, denn auch Figuren haben eine Haltung zu ihrem Leben - wenn sie dreidimensionale Figuren sind.
Figuren mit einer Haltung haben den Vorteil, dass der Autor zu jeder Zeit und in jeder Szene weiß, wie die Figur ihrem Charakter entsprechend reagieren wird. In der Fachsprache heißt das, die Figur bleibt "in character".
Nehmen wir den kleinen Herrn Rettich. Herr Rettich ist davon überzeugt, dass ihm im Leben nichts geschenkt wird. Das ist seine Haltung. Mit ihr geht er (unbewusst) in jede Situation seines Lebens hinein.
Die zweite wichtige Ergänzung ist das, was Vorhaus die "zwei Seiten der Medaille" nennt. Jede dreidimensionale Figur ist ein ganzes Bündel von Charaktermerkmalen. Aber jede Figur hat ein hervorstechendes Charaktermerkmal. Das kann zum Beispiel Naivität sein oder Misstrauen, Ehrgeiz oder Freundlichkeit etc.
Die "Zwei Seiten der Medaille" bestehen nun darin, dass solche hervorstechenden Charaktermerkmale immer positive und negative Folgen für die Figur haben. Ganz konkret: Eine sehr naive Figur glaubt alles, was ihr erzählt wird. Sie lässt sich auf alles und jeden ein. Das Gute ist, dass sie sehr sympathisch ist und viel mitmacht. Auf der anderen Seite wird sie allem und jedem auf den Leim gehen. Eine naive Figur ist also gleichzeitig auch ein perfektes Opfer.
Eine misstrauische Figur hinterfragt alles. Man kann ihr kein X für ein U vormachen. Allerdings wird sie auch wohlmeinenden Menschen gegenüber nicht zugänglich sein und sie verprellen. Eine misstrauische Figur wird sich weder auf andere Figuren noch auf Abenteuer einlassen. Dafür "bezahlt" sie mit Einsamkeit und einer gewissen Statik in ihrem Leben.
In dieser Art gibt es für jede Charaktereigenschaft positive und negative Auswirkungen für die Figur, die sie hat. Die "zwei Seiten der Medaille" eben.
Wäre z. B. Herrn Rettichs hervorstechende Eigenschaft seine Höflichkeit, könnte es durchaus sein, dass er sich aufgrund seiner Höflichkeit in Situationen wiederfindet, in die er niemals hineingeraten wollte. Einfach, weil er zu höflich war, um abzulehnen oder sich zu weigern, etwas zu tun.
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Alles Extremfälle
Gelungene fiktionale Figuren sind überlebensgroß. Im Gegensatz zu den meisten realen Menschen, von denen zwar jeder eine besondere Eigenschaft hat, die aber insgesamt doch recht durchschnittlich sind, sollte eine gelungene, dreidimensionale Figur, die den Rezipienten fesselt, immer überlebensgroß sein. Also die Schönste der Schönen, der Grausamste der Grausamen, der Gestörteste der Gestörten, oder im Falle von Herrn Rettich z. B. der Grauste der Grauen. Oder der Höflichste der Höflichen. Unser kleiner Herr Rettich wird dadurch überlebensgroß, dass wir seine hervorstechende Eigenschaft nehmen und sie beinahe ins Groteske aufblähen.
Betrachten wir Karen Duves Alex Herwig, so ist sie die Entscheidungsgehemmteste der Entscheidungsgehemmten. Oder Stieg Larssons Lisbeth Salander. Die ist zwar auch eine ziemlich Schlaue, aber auch und vor allem die Schroffste der Schroffen.
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Widerspruch, bitte
Jedem Leser, jeder Leserin, jedem Zuschauer und jedem Hörer sind sie schon einmal begegnet: die Klischeefiguren. Hure mit Herz, harter Kerl mit weichem Kern. Einige Zeit wimmelte es in Drehbüchern von jungen, schönen polnischen Marias, die Germanistik studierten und ihr Studium mit Prostitution finanzierten.
Nähme man der Hure das Herz oder dem harten Kerl den weichen Kern, dann hätte man schon ordentlich gegen das Klischee gepunktet.
Grundsätzlich eine gute Methode, um die Figuren klischeefest und noch dreidimensionaler zu bauen, ist es, Widersprüche in ihrem Charakter für sie zu finden.
Beispiel: Im Fall von Herrn Rettich könnte man meinen, dass seine Lieblingsbeschäftigung darin besteht, seine Wohnung aufzuräumen und alles peinlich sauber zu halten. Stimmt nicht. Herr Rettich sammelt Coca Cola Werbeartikel. Und zwar ganz besondere. Nämlich solche, die nicht für den europäischen Markt vorgesehen waren.
Gibt's nicht? Doch. Ich selbst habe einmal jemanden kennen gelernt, der dieses Hobby hat. Ansonsten hatte er mit Herrn Rettich aber keinerlei Ähnlichkeiten.
Herr Rettich ist also nun ein glühender Jäger und Sammler dieser Artikel. Egal, ob Gläser, Figürchen, Aufkleber oder CDs und Singles mit Cola-Songs, er sammelt alles. Und durchstreift sämtliche Internet- und sonstigen Börsen auf der Suche nach diesen Dingen. Für seine Sammelleidenschaft entwickelt er Aktivitäten, die wir ihm gar nicht zugetraut hätten, und schlägt dabei manchmal sogar über die Stränge.
Die Widersprüchlichkeit muss zur Figur passen. Muss, bei aller Widersprüchlichkeit, glaubwürdig sein. Ich glaube beispielsweise nicht, dass Herr Rettich einen glaubwürdigen Death Metal Fan abgeben würde. Ein guter widersprüchlicher Charakterzug wirkt weder aufgesetzt noch wirkt er unglaubwürdig.
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Tricks
Bisher ging es um die Theorie der dreidimensionalen oder auch abgerundeten Figur. Theoretisch ist also alles klar. Aber praktisch? Der folgende Abschnitt behandelt unterschiedliche Möglichkeiten, seinen Figuren auf die Schliche zu kommen.
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Die Biografie
Das allererste Mittel, das auch in allen Ratgebern genannt wird, ist das Schreiben einer Biografie für die Figur.
James N. Fry empfiehlt in seinem Buch "Wie man einen verdammt guten Roman schreibt", die Biografie in der Ich-Perspektive zu schreiben. Das hat den Vorteil, dass der Autor eher in die Haut der Figur schlüpfen kann.
Für Herrn Rettich hieße das: Ich bin am 3. März 1955 in Bremen geboren. Meine Mutter Ilse gab mir den Vornamen Hartmut. Meinen Vater kenne ich nicht. Ich bin ein uneheliches Kind. Meiner Mutter war es sehr wichtig, dass ich immer besser war als andere Kinder. Ich sollte braver sein, besser in der Schule, höflicher und erfolgreicher. Gleichzeitig sollte ich aber nicht auffallen. Noch heute höre ich ihr "Wer auffällt, hat Komplexe". Und ich muss sagen, sie hatte Erfolg. Weitgehend...
Alle Ratgeber empfehlen, dass die Figurenbiografie so detailreich wie möglich ausgearbeitet wird: Traumata, Ängste, Wünsche, Motivationen, alles soll in dieser Biografie nieder gelegt sein.
Dazu eine ganz persönliche Anmerkung. Möglicherweise geht es nicht vielen Autoren so, aber für mich als Autor funktioniert das nicht ganz, denn es ist eine Biografie, die komplett aus der Vogelperspektive entsteht. Natürlich ist es wichtig, viel über eine Figur zu wissen, bevor man mit seinem Roman, Hörspiel oder Film beginnt, und das auch schriftlich zu fixieren. Bei allzu viel Fixierung wird man aber schnell feststellen, dass die Figur einem doch recht schnell klar macht, dass vieles, was man für sie überlegt hat, gar nicht zutrifft. Dass sie möglicherweise ganz andere Probleme, Stärken und Charakterzüge hat, als man in der Biografie aufgeschrieben hatte.
Ich persönlich fange beim Erfinden einer Figur immer mit groben Merkmalen an. Und zwar möglichst welchen, die mir für die Geschichte wichtig erscheinen, die ich erzählen will. Illustrieren werde ich das rasch am Beispiel von Anton Kummer, einer meiner Lieblingsfiguren aus meinem Roman "Novembertod". Zunächst brauchte ich für den Roman einen Fotografen. Ich wollte, dass dieser Fotograf etwas Kindliches hat, ja vielleicht sogar ein Kind ist, und das Fotografieren mit kindlicher Leidenschaft betreibt. Da der Roman 1918 spielt, brauchte es außerdem eine gute Begründung, warum dieser junge Fotograf eine Kamera besitzt. So langsam schälten sich die Umrisse des achtjährigen Anton Kummer aus dem Papier. Anton ist eine Halbwaise. Er lebt im völlig verarmten Wedding. Seine Faszination fürs Fotografieren hat er, seit er den Fotografen Willy Römer, der eine historisch verbürgte Figur ist, beim Fotografieren einer Weddinger Straßenszene beobachtet hat.
Dann kamen auf einmal andere Teile seiner Biografie hinzu: An die Kamera gekommen ist er, weil er sich bei einem Nachbarn, der sein Geld mit damals streng verbotenen erotischen Fotografien machte, als Assistent und Laufbursche andiente. Der Nachbar fällt im Krieg. Anton macht sich dessen Ausrüstung zu Eigen und wird zum Chronisten der Novemberrevolution.
Während des Schreibens fiel mir auf, dass mein Anton zu jung für die Aufgaben und Abenteuer war, die er durchstehen musste. Also wurde er vierzehn. War aber nur von kindlicher Größe, weil er an Rachitis litt, einer damals für Slumbewohner durchaus gewöhnlichen Krankheit. Anton war benachteiligt, ein Einzelgänger, aber ein freundlicher und sehr kreativer Einzelgänger.
Je mehr ich also mit ihm arbeitete, desto näher kam ich ihm. Ich lernte, dass er aufgrund seiner Herkunft nicht das größte Selbstvertrauen hatte, schüchtern war, wenn es Menschen betraf, gleichzeitig aber auch wagemutig, wenn es ums Fotografieren ging. Zum Schluss fiel mir eine Eigenschaft an ihm auf, die man am besten mit "abwarten, wenn's brenzlig wird" beschreiben kann. Diese Eigenschaft sollte ihn das Leben kosten.
Nun war aber dieser Anton Kummer anscheinend eine so dreidimensionale und liebenswerte Figur geworden, dass sein Tod einen Sturm der Entrüstung bei meinen Probelesern lostrat. Und zwar ohne dass ich je eine Vorab-Biografie für ihn geschrieben hätte. Ich habe mich dem wütenden Protest gebeugt: Anton entkam seinem Schicksal, wenn auch nur knapp und schwer verletzt.
Auf den Punkt gebracht: Das Schreiben einer Biografie ist ein sehr gutes und legitimes Mittel, um eine Figur zu "entdecken". Ein Mittel, das jeder Autor, wenn nicht immer anwenden, aber so doch zumindest ein paar Mal für sich ausprobieren sollte. Aber viele Eigenschaften und Eigenarten von Figuren fallen einem oft erst auf, wenn man mit ihnen arbeitet.
Ich ganz persönlich muss eine Figur, nachdem ich ein paar grobe Pflöcke eingehauen habe, was sie und ihr Verhalten betrifft, handeln und mit anderen Figuren interagieren sehen, um sie kennenzulernen.
Die nächste Übung zeigt, wie man seinen Figuren auf die Schliche kommen kann, indem man sie in Handlung verwickelt. Sie heißt "die Beschwerde".
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Die Beschwerde
Es passiert etwas, das die Figur absolut unerträglich findet. Sie geht los und beschwert sich. Der Autor schreibt mit.
Hier kommt mal wieder Herr Rettich ins (Bei-)Spiel: Herrn Rettichs Nachbarin, die wiederum eine große Freundin von Death Metal Musik ist, hat ihre Lieblings-CD so laut aufgedreht, dass Herrn Rettichs Coca-Cola Devotionalien in ihren Vitrinen klirren. Er macht sich unglücklich auf und beschwert sich. Er wird höflich klingeln und, wenn ihm überhaupt aufgemacht wird, höflich bitten, die Musik leiser zu stellen. Er wird sogar höflich erklären, warum es zu laut ist, und um Verständnis bitten.
Als Autor schreiben Sie diese Szene natürlich in allen Details auf. Was sagt Ihre Figur ganz genau, wie sagt sie es und was tut sie. Was sagt und tut ihr Widersacher. Und, ganz wichtig ist, ob Ihre Figur erfolgreich ist mit ihrer Beschwerde. Bekommt sie, was sie will? Und wenn ja, wie? Wenn nein, wie nimmt sie ihre Niederlage auf?
Wichtig ist, dass die Figur in dieser Übung so wie auch später in ihrem Buch, Hörspiel oder Film mit allen ihren zur Verfügung stehenden Mitteln kämpft. Frey nennt das "mit ihrer Maximalkapazität handelt". Es ist klar, dass z. B. ein schüchterner, zurückhaltender Mensch andere Mittel wählt, als ein Mitglied der russischen Mafia, oder jemand, der über so viel Charme verfügt, dass er damit die Polkappen zum endgültigen Abschmelzen bringt. Eine Lisbeth Salander löst das Problem anders als eine Alex Herwig.
Aber auch für den Schüchternen gibt es Mittel und Wege, seine Ziele durchzusetzen. Es ist die Aufgabe des Autors, diese Mittel und Wege zu erkennen.
Herr Rettich zum Beispiel könnte einen Brief an die Hausverwaltung schreiben. Oder er könnte, hätte er einen hinterhältig-anarchischen Zug, die Tür seiner Nachbarin heimlich mit Sekundenkleber zukleben und ihr, nachdem sie sich fluchend aus ihrer festgeklebten Tür gearbeitet hat, ein höfliches "Sie hätten einfach nur die Musik leiser machen müssen" zuflüstern.
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Öffentliches versus privates Verhalten
Die Frage zu beantworten, wie die Figur sich in der Öffentlichkeit im Gegensatz zum Privatleben verhält, ist eine weitere Möglichkeit, neue Eigenschaften an ihr zu entdecken. Die Übung besteht einfach daraus, drei Dinge aufzuschreiben. Nämlich erstens: Wie verhält die Figur sich in der Öffentlichkeit. Zweitens: Was tut die Figur, wie sieht sie aus, wie verhält sie sich, wenn sie sich unbeobachtet zu Hause befindet. Drittens: Was tut sie, wenn unangemeldet Besuch kommt.
Diese Übung hilft ungemein, verborgene Charakterzüge aufzuspüren.
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Das Interview
Eine weitere Möglichkeit, sich den Figuren zu nähern, um sie dreidimensional zu gestalten, ist das Interview. Der Autor interviewt seine Figur, als wäre er ein Journalist. Er stellt alle Fragen, die er schon immer beantwortet wissen wollte, aber sich zuvor nicht zu fragen getraut hat. Und die Figur antwortet.
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Beschreibungsmöglichkeiten
In der Literatur hat der Autor die Möglichkeit, Figuren bzw. die Charaktereigenschaften der Figuren durch deren inneren Monolog oder eine mehr oder minder auktoriale Schilderung des Autors zu beschreiben. Auch im Hörspiel ist das möglich. Der Autor kann die Figur sich selbst beschreiben lassen.
Als Beispiel mal wieder Herr Rettich: Immer wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich Grau. Ein graues Oval starrt mir entgegen, mit kleinen Augen, die tief in den Höhlen liegen, und durch meine Brille noch kleiner wirken...
Eine andere Figur beschreibt Herrn Rettich: Ich muss ihm tausendmal im Treppenhaus begegnet sein. Aber für mich war er wie unsichtbar. Bis zu dem Tag, als die Sache mit dem Haus passierte. Da habe ich ihn das erste Mal bewusst wahrgenommen. Klein, zerbrechlich, streng gescheitelt...
Der Erzähler kann Herrn Rettich beschreiben: Er war ein kleiner Mann, grau und von ausgesuchter Höflichkeit, die ihn wie eine Rüstung umgab...
Die Möglichkeiten, eine Figur zu beschreiben, sind beinahe unendlich. Eine weitere, sehr wichtige Art der Figurenbeschreibung ist die, sie handeln zu lassen. Im Film, der nicht über die erzählerischen Möglichkeiten der Literatur verfügt und außerdem ein streng visuelles Medium ist, läuft die Informationsvermittlung über die Herkunft einer Figur, ihren inneren Zustand, ihre (hervorstechenden) Charaktereigenschaften und ihren Lebenszusammenhang beinahe ausschließlich über ihr Verhalten in den Situationen, in die sie kommt. Der Autor kann z. B. nicht einfach sagen, Herr Rettich ist ein Single, sondern er muss einen Weg finden, diesen Zustand zu zeigen. Zum Beispiel, indem er ihn mit einem einzelnen Bier, einem kleinen Päckchen Brot und einer kleinen Packung Käse im Einkaufsnetz das Treppenhaus hochgehen lässt. Alle Beschreibungsebenen müssen visuell "bedient" werden. Dabei helfen z. B. die Kleider, die die Figur trägt (soziale Beschreibungsebene). Die Art, wie sie sich in der Öffentlichkeit bewegt, sagt viel sowohl über ihre soziale Herkunft, als auch ihren psychischen Zustand aus (psychische Beschreibungsebene). Und die Tatsache, dass die Figur männlich oder weiblich, groß oder klein, dick oder dünn ist, deckt die physiologische Beschreibungsebene ab.
Möglicherweise gibt es auch schon Hinweise über die Haltung: Macht die Figur alles mit einer gewissen Vorsicht? Überprüft sie alles, was sie tut? Dann ist sie sicher niemand, der allzu vertrauensselig durch die Welt geht. Agiert sie spontan und zupackend, hat sie ein gewisses Grundvertrauen etc.
Im Unterrichtsmaterial zum Thema Drehbuchschreiben, das Sie im Selbstlernbereich von akademie.de finden, lernen Sie weitere Möglichkeiten kennen, um von der reinen Beschreibung der Figur zum Bild und zur Handlung zu kommen und so die dreidimensionale Figur noch plastischer zu machen. Wie man dieses Wissen für Prosatexte nutzt (inklusive vieler anderer Tricks und Kniffe), können Sie in meinen Seminaren erfahren.
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Mehr als das Fazit
Wer bis hierhin gelesen hat, hat nicht nur Lajos Egris drei die Figur beschreibende Dimensionen kennen gelernt (physiologische, soziologische, psychologische Dimension), sondern auch die Ergänzung dieser drei Dimensionen um zwei weitere, nämlich die Haltung und die zwei-Seiten-der-Medaille des hervorstechenden Charaktermerkmals. Beide Zusatzdimensionen wurden von John Vorhaus eingeführt. Vielleicht hat der ein oder andere Leser auch schon die praktischen Übungen durchgespielt, mit deren Hilfe man seiner Figuren habhaft wird. Es sollte also klappen mit der Figurenfindung.
Einen der wichtigsten Punkte habe ich mir für den Schluss aufgespart: Die abgerundetste Figur nützt nichts, wenn sie nur passiv in ihrem Kämmerlein hockt. Sie muss aktiv werden, denn sie und ihre Aktivität ist die Verursacherin der Geschichte. Wenn nicht hoher, äußerer Druck sie zwingt, aktiv zu werden, muss sie etwas haben, was James N. Frey "beherrschende Leidenschaft" nennt. Herrn Rettichs beherrschende Leidenschaft ist es, resultierend aus seinem geheimen Wunsch, doch einmal aufzufallen, die größte Sammlung seines Sammlungsgebietes aufzubauen. Dafür wird er aktiv. Jon Ewermanns beherrschende Leidenschaft ist sein personifizierter Liebeswahn Frau Schwertfeger. Bis zum bitteren Ende. Lisbeth Salander will nicht Opfer sein. Anton Kummer möchte ein großer Pressefotograf werden. Sie alle gehen ihrer Leidenschaft nach. Und daraus resultieren ihre Geschichten, die ihre Autoren nur noch aufschreiben müssen.
Und eine eigentlich passive Figur wie Alex Herwig? Die ihrer beherrschenden Leidenschaft gemäß alles aushält, nichts entscheidet? Und dadurch in unglaublichste Situationen gerät? Diese Situationen verstärken den äußeren Druck auf sie und erhöhen ihren inneren Druck. Und der Leser fragt sich, wie lange sie das aushalten will. Und bleibt deswegen an ihr dran.
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Zum guten Schluss
Noch ein Hinweis: Eine gute Figur braucht ein wenig Zeit. Nicht verzweifeln, wenn sie erst langsam aus dem Schatten tritt. Und schließlich froh sein, wenn sie nicht so ist und nicht das macht, was der Autor ihr diktiert. Denn dann fängt sie wirklich an zu leben.