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In allen Seminaren zum Thema Autobiografie und autobiografisches Schreiben wird früher oder später eine wichtige Frage gestellt: "Wie soll ich es mit der Wahrheit halten? Soll ich wirklich alles aufschreiben, wie ich es erlebt habe und wie ich darüber denke?" - Stefan Strehler gibt Tipps.
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Überlegen Sie selbst: "Was erwarten Sie, wenn Sie eine Autobiografie oder eine autobiografische Geschichte lesen oder hören?"
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Die Wahrheit ist: Als Leser wünschen wir uns die Wahrheit, nichts als die Wahrheit.
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Aber als Autor fällt es nicht immer leicht, die ganze Wahrheit zu erzählen, selbst wenn der Wille dazu vorhanden ist. Quälende Fragen tauchen auf: Wie reagiert die Familie, wenn sie das liest? Wie nimmt mein (Ex-)Partner auf, was ich über unsere (gescheiterte) Ehe erzähle? Kommen die Kinder mit meiner Vergangenheit klar? Mache ich mich nicht zum Narren?
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Je eingehender wir die Frage nach der Wahrheit betrachten, umso schwerer fällt eine eindeutige Antwort. Wie oft haben wir schon erlebt, dass die "offizielle" Interpretation eines Ereignisses nicht unserer "gefühlten Wahrheit" entspricht? Ja, manchmal kommt uns sogar das, was wir uns wünschen, viel wahrhaftiger vor, als das, was geschehen ist!? Und noch etwas irritiert: Je nach Lichteinfall scheint sich die Wahrheit zu verändern. Es ist eine seltsame und manchmal beschämende Eigenheit der Wahrheit, dass sie sich Gegebenheiten anpasst. So verändert sich die Wahrheit beispielsweise in Abhängigkeit von den Adressaten. Dem Partner erzähle ich eine ganz andere Version als dem Chef! Und das liegt nicht daran, dass wir notorische Lügner sind. Wir wissen einfach, dass wir mit der geäußerten Wahrheit auch leben müssen.
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Es ist entlastend, sich klarzumachen, dass es die alleingültige Wahrheit nicht gibt. Wahrheiten verändern sich. Mit zeitlichem und emotionalem Abstand betrachten wir vieles mit anderen Augen als im heißen Augenblick des Erlebens. Selbst unser Gedächtnis spielt bei der einzigen Wahrheit nicht mit: Unsere Erinnerungen verändern sich jedes Mal, wenn wir darauf zugreifen.
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So bedeutet autobiografisches Schreiben immer eine Gratwanderung zwischen mehreren Wahrheiten. Selbst die Wahrheit, die wir in unserem Innersten als richtig spüren, ist oft nicht eindeutig zu formulieren.
Und dennoch gibt es eine Wahrheit, die am wichtigsten ist: die Wahrheit, die erzählt werden will. Das ist oft nicht die Version der Wahrheit, die wir selbst am liebsten hören wollen, aber es ist die Version, die das Herz - unser eigenes und das unserer Leser und Zuhörer - am tiefsten berührt.
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Die nackte Wahrheit
In einem überlieferten Gleichnis heißt es: "Die nackte Wahrheit irrte durch die Straßen. An jeder Tür des Dorfes wurde sie zurückgewiesen. Ihre Blöße erschreckte die Menschen. Ein alter Mann fand sie frierend und hungrig in einer Ecke kauernd. Weil er Mitleid mit ihr hatte, half er ihr auf und nahm sie mit zu sich nach Hause. Er wärmte sie und zog ihr eine Geschichte an und schickte sie wieder nach draußen. In die Geschichte gekleidet, klopfte Wahrheit wieder bei den Bewohnern des Dorfes an und wurde mit offenen Armen empfangen. Sie luden Wahrheit ein, mit ihnen bei Tisch zu sitzen und sich am Feuer zu wärmen."
Um eine Wahrheit verbreiten zu können, bedarf sie der öffnenden Kraft einer guten Geschichte. Eine Wahrheit kann nicht losgelöst von einer Geschichte ihre Wirkung entfalten. Die Kunst, die Wahrheit zu sagen, besteht vor allem darin, eine stimmige Geschichte zu erzählen, durch welche die Wahrheit, die erzählt werden will, zum Leuchten gebracht wird.
Neben dem Handwerkszeug des Geschichtenerzählens muss sich der Erzähler dafür mit einem wichtigen Aspekt beim Schreiben einer Autobiografie vertraut machen. Er muss sich über die besondere Rolle des autobiografischen Helden bewusst werden.
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Der autobiografische Held
Schriftsteller und Filmemacher setzen ihre ganze Kunstfertigkeit ein, um eine erfundene Geschichte so zu erzählen, dass wir sie für glaubwürdig halten.
Der Autor einer Autobiografie oder autobiografischen Geschichte hat es leicht dagegen. Er braucht nur anzukündigen: "Was ich erzähle, habe ich selbst erlebt", und schon kann er sich der Aufmerksamkeit sicher sein. Nun sollte er diese Gunst nicht leichtfertig verschenken.
Die größte Gefahr beim Schreiben einer Autobiografie oder autobiografischer Texte liegt darin, dass sich der Erzähler zu wichtig nimmt! Das klingt paradox, denn es geht ja darum, was er erlebt, gefühlt, gedacht und welche Schlüsse er daraus gezogen hat. Aber für die Leser und Zuhörer ist noch etwas anderes wichtig: Sie wollen einfach eine gute Geschichte! Deshalb muss der autobiografische Erzähler lernen, hinter seine Geschichte zurückzutreten und alles dafür zu tun, die Geschichte am Laufen zu halten.
Der autobiografische Erzähler wird nicht allein durch seine Taten zum Helden, sondern vor allem durch seine Betrachtungsweise. Durch seine Brille wollen die Leser einer Autobiografie oder autobiografischen Geschichte miterleben,
was geschah
welchen Anteil der Held am Geschehen hatte
wie er mit den Geschehnissen umging
wie ihn das Erlebte veränderte und prägte.
Der autobiografische Held erobert die Herzen seiner Leser dadurch, dass er eine gute Geschichte zu erzählen hat. Er ist in erster Linie jemand, der seine Angst davor, schlecht dazustehen, durch originelles, mutiges und wesentliches Erzählen überwunden hat.
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Regeln des autobiografischen Erzählens
Konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche. Der autobiografische Erzähler unterliegt der ständigen Verführung, unwichtige Zusammenhänge, Personen und Details zu erwähnen. Verzichten Sie auf Abschweifungen, halbgare Nebenstränge und übertriebene Botschaften, wenn Sie nicht der Wahrheit ihrer Geschichte dienen.
Schriftsteller verbringen viel Zeit damit, ihre Figuren mit widersprüchlichen Eigenschaften auszustatten, um sie interessant und lebendig zu gestalten. Trauen Sie sich, ein Held mit Widersprüchen und Unebenheiten zu sein. Versuchen Sie nicht, ein allzu glattes Bild von sich abzugeben. Viel interessanter sind Macken und seltsame Eigenheiten. Halten Sie damit nicht hinterm Berg.
Trauen Sie sich, einmalig zu sein. Das betrifft sowohl den Inhalt Ihrer Autobiografie bzw. autobiografischen Geschichte, die Darstellung Ihrer selbst, wie auch die Wortwahl.
Ihre Leser wollen an Ihren Gefühle und Gedanken teilhaben. Stellen Sie dennoch die Handlung in den Vordergrund Ihrer autobiografischen Geschichten! Die Leser wollen wissen, was geschah, um dann darüber etwas zu erfahren, was das Geschehen in Ihnen auslöste. Ihre innere Bewegung soll nachvollziehbar sein, aber die Darstellung ihrer inneren Welt muss sich in einem ausgewogenen Verhältnis zum äußeren Geschehen befinden. Grundsätzlich gilt: Gehen Sie sparsam mit Gefühlsäußerungen um, aber verzichten Sie nicht darauf.
Um Bewertungen vorzunehmen, dürfen Sie Zeitsprünge machen, zum Beispiel um ein Ereignis aus der Gegenwart zu reflektieren. Schildern sie erst das Ereignis, wie es sich zugetragen hat. Markieren sie dann den Zeitsprung innerhalb Ihrer Erzählung deutlich (bspw. "Heute denke ich darüber anders ...") und nehmen Sie ihre Reflexion vor. Auch hier gilt: Reflexion ist ein erwünschtes Element in einer Autobiografie oder autobiografischen Geschichte, aber gehen Sie sorgsam damit um. Überfrachten Sie ihre Erzählung nicht mit Reflexionen.
Seien Sie Zeitzeuge! Schildern Sie Details aus einer versunkenen Zeit oder Gegend. Manch wahre Geschichte lebt vor allem von Ihrer Zeitzeugenschaft; wenn eine vergangene Epoche wiederaufersteht oder wenn Sie historische Ereignisse und Persönlichkeiten ganz nah miterlebt haben. Aber nur wenn Sie ein ausgezeichneter Erzähler sind, können Sie darauf verzichten, sich selbst ins Spiel zu bringen. Ansonsten gilt: Verstecken Sie sich nicht hinter Ihrer Zeitzeugenschaft. Zeigen Sie, wie Sie sich in der geschilderten Welt zurecht gefunden haben.
Versuchen Sie, ihren zeitlichen Abstand in Humor zu verwandeln. Humor ist eine wunderbare Möglichkeit, um auch schwierige Situationen zu schildern, ohne in abgrundtiefe Betroffenheit zu versinken. Aber auch hier gilt: Vorsicht! Machen Sie keine Komödie aus ihrem Leben. Das wird ihm kaum gerecht.
Entscheidend ist, dass sie mit einer authentischen Stimme, in einer Sprache, die zu Ihnen passt, erzählen. Aufgesetzte Stimmen wirken nicht glaubwürdig und zerstören die Wirkung Ihrer Geschichte.